Evangelisches Dekanat Vogelsberg

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          ...aus der Suchtberatung im Beratungszentrum Vogelsberg

          Freiwilligkeit und Ambivalenz

          Foto: medienREHvier, Karin Irmscher

          Im vorausgegangenen Gemeindebrief haben wir begonnen, das Beratungszentrum Vogelsberg vorzustellen. Wie dort bereits angesprochen, ist eine unserer zentralen Aufgaben die Suchtberatung, die wir am Beispiel von Herrn Müller* veranschaulichen wollen.

          Unser Beratungsangebot ist für alle Hilfesuchenden kostenlos und vor allem freiwillig. Auf Wunsch beraten wir auch anonym; wir haben Schweigepflicht und sogar Zeugnisverweigerungsrecht vor Gericht. Wir würden uns über eine frühzeitige Kontaktaufnahme freuen, denn je früher man seine Schwierigkeiten angeht, umso leichter sind Verhaltensänderungen möglich.

          Unsere Erfahrung im Beratungsalltag ist jedoch eine andere: Alle Beteiligten wie Familie, Freunde, Arbeitskollegen, Arbeitgeber und vor allem die Betroffenen selbst wagen meist erst dann den Schritt zu uns, wenn sie völlig am Ende sind und der Berg aus Problemen oft schon unüberschaubar geworden ist. Wer dann schnelle Lösungen erwartet, wird enttäuscht. Sucht ist eine ernst zu nehmende, schwerwiegende Krankheit, die sich nicht „mal so nebenbei“ aus dem Weg räumen lässt…

          Sucht ist noch immer ein Tabuthema in unserer Gesellschaft. Ein Stigma, das geheim gehalten werden muss. Auf Süchtige wird herabgesehen, sie gelten als willens- oder charakterschwach und viele denken, dass Süchtige doch“ selbst schuld sind“. Deshalb wundert es nicht, dass es Betroffenen so schwer fällt, sich ihre Sucht einzugestehen und in eine Beratungsstelle zu gehen.

          Von daher ist es mit der „Freiwilligkeit“ so eine Sache. Die meisten Menschen wurden  durch andere wie zum Beispiel Arbeitgeber, Führerscheinstelle, Partner oder Ehefrau etc. motiviert oder genötigt, zu uns zu kommen.

          Unsere wichtigste Aufgabe besteht deshalb zunächst darin, mit dem / der Hilfesuchenden eine gute Beziehung aufzubauen und ihn oder sie darin zu unterstützen, den eigenen Willen zu erkunden. Erst dann kann bestenfalls - mit der zu Beginn einer Beratung häufig fragilen Eigenmotivation  -  gemeinsam nach guten, passgenauen Lösungen  gesucht werden, die nicht immer zwingend dem sog. Königsweg der Abstinenzorientierung folgen.

          Herr Müller kam „spontan“ und „freiwillig“ mit seiner Schwester zu unserer offenen Sprechstunde (die immer mittwochs von 10-12 Uhr stattfindet), nachdem sie ihm den Autoschlüssel weggenommen hatte, da er mal wieder betrunken fahren wollte…

          Er konnte dies nicht nachvollziehen und bagatellisierte seinen Alkoholkonsum, war aber ja dennoch mitgekommen und interessierte sich für unsere Einschätzung. Auch wenn er im Gespräch zunächst eher skeptisch und abweisend war, ließ er sich nach und nach auf das Gespräch und sogar einen weiteren Termin (ohne seine Schwester) ein. Offenbar hatten wir uns nicht so verhalten, wie er es erwartet, bzw. befürchtet hatte: Wir hatten keine vorschnelle Beurteilung vorgenommen, sondern mit ihm gemeinsam geschaut, ob und inwiefern er ein Suchtproblem hat und wie sein weiterer Weg aussehen könnte. Aus diesem  Termin wurden dann mehrere mit deutlich zunehmender Eigenmotivation.  

          Herr Müller räumte sehr schnell ein, dass er nicht so mit dem Trinken umgehen könne, wie er wolle und dass er es nicht allein schaffe, damit aufzuhören. Im vertrauten Gespräch berichtete er auch davon, dass er bereits einmal Krampfanfälle bei einem Selbstentzug gehabt habe. So konnte er sich allmählich darauf einlassen, eine Entgiftung durchzuführen. Danach gelang es ihm 4 Wochen ohne Alkohol zu leben.

          In dieser Zeit dachte er noch, er benötige keine Therapie. Bis zu einem massiven Rückfall. Danach konnte er sich eingestehen, dass er es vielleicht doch nicht ganz ohne Therapie schaffen würde. Er war hin- und hergerissen, was er nun tun solle. Einerseits schien ihm eine stationäre Therapie notwendig, andererseits hoffte er noch immer, sie nicht zu brauchen.

          Diese Ambivalenz ist ein natürlicher Prozess bei Verhaltensänderungen und ganz besonders bei Abhängigkeitserkrankungen.

          In den weiteren Gesprächen ging es deshalb immer wieder um das Für und Wider einer stationären Therapie: Besteht wirklich die Notwendigkeit? Welchen Nutzen hat sie? Welche Befürchtungen sind damit verbunden?

          In diesen Gesprächen räumte Herr Müller nach und nach ein, dass er auch noch ein Problem mit Medikamenten habe, auf die er keineswegs verzichten wolle. Da sie ärztlich verordnet waren, sah er darin keine Suchtgefahr. Die Fachklinik für Suchtkranke, die er für eine eventuelle Behandlung ins Auge gefasst hatte, wollte ihn aber nur aufnehmen, wenn er bereit ist, sich auf eine (nicht abhängig machende) Ersatzmedikation einzulassen. Dies war für ihn keine Option. Er schimpfte ohne Unterlass auf die Einrichtung und auf die leitende Ärztin, die er nicht einmal kannte.

          Aber er kam weiter zu Beratungsterminen und wir konnten darüber reden, was ihn an der Vorgabe der Suchtklinik so wütend macht. Allmählich konnte er sich eingestehen, dass bei der Einnahme von Tramal (Schmerzmittel aus der Gruppe der Opioide) nicht seine Schmerzen im Vordergrund stehen, sondern ein abhängiger Gebrauch. Und die Vorstellung, auch darauf verzichten zu müssen, machte ihm große Angst. Erst als er das im Beratungsprozess erkannt hatte, konnte er sich für eine stationäre Behandlung einschließlich Ersatzmedikation entscheiden. Also stellten wir mit ihm die notwendigen Anträge und blieben mit ihm in engem Kontakt bis zum Antritt der stationären Behandlung.

          Dort konnte er dann mit fachkundiger Unterstützung, sein bisheriges Leben vertiefter reflektieren und die Funktion seiner Suchtmittel verstehen. Er nahm Angebote zur  Rückfallprophylaxe und zur Verbesserung seines Freizeitverhaltens wahr, die ihm den Start in einen neuen Lebensabschnitt ohne Suchtmittel ermöglichen sollten.

          Um das bisher Erreichte in sein reales Leben zu integrieren, wurde während der stationären Therapie ein Antrag auf eine Nachsorgebehandlung gestellt, die er wiederum im Beratungszentrum durchführen wird. Da die Rückfallgefahr im ersten halben Jahr nach einer stationären Therapie am größten ist, ist die Nachsorge eine wichtige abstinenzstabilisierende Maßnahme. 

          Beratung ist immer ein wechselseiiger Prozess zwischen Berater*in und Betroffenem; es gibt keine Patentrezepte. Wie man am Beispiel von Herrn Müller* gut erkennen kann, gibt es vor allem keine schnellen Lösungen. Der Beratungsprozess ist mitunter nicht nur für Klient*innen sehr anstengend, sondern auch für die Berater*innen, die ja quasi den Auftrag übernommen haben, die starke „Allianz“ der Betroffenen mit dem Suchtmittel im Fokus der Arbeit zu behalten. Diese „Allianz“ ist für Nichtsüchtige kaum nachzuvollziehen. Von außen scheint es doch so klar und vernünftig, „einfach“ auf das Suchtmittel zu verzichten. Aber genau das können Süchtige nicht. Deshalb verharmlosen und verleugnen sie ihr Problem und belügen sich und andere. Nicht suchterfahrerne Menschen und fachfremde Kolleg*innen verkennen deshalb oft den Ernst der Lage oder ziehen sich verärgert und resigniert zurück, weil der Süchtige „sich ja gar nicht helfen lassen will“.

          Jeder Beratungsprozess verläuft natürlich entsptechend der Vorgeschichten der  betreffenden Menschen ganz unterschiedlich. Manche haben ihre Problematik schon mit Freunden oder Anghörigen besprochen und kommen direkt mit dem Wunsch zu uns, in eine  ambulante oder stationäre Therapie vermittelt zu werden. Andere kommen ein Mal, bleiben dann aber erst einmal über Monate weg, gehen nicht an ihr Telefon, um dann vielleicht mit klaren Zielen wiederzukommen und unsere Unterstützung für ihre Veränderungsprozesse gerne anzunehmen. Einige kommen oft erst (wieder) mit uns in Kontakt, wenn sie von Arzt oder Gericht mit massiven Gesundheitsproblemen bzw. bei Übertretung von gesellschaftlichen Regeln dazu aufgefordert wurden.

          Unser Beratungsangebot muss also sehr vielfältig und bedarfsorientiert sein. Weitere Angebote des Beratungszentrums weden in den folgenden Ausgaben zu lesen sein.

           

          *Name von der Redaktion geändert

           

          Das Beratungszentrum Vogelsberg – Sucht Prävention, Jugend, Familie ist eine Einrichtung der ev. Dekanate Vogelsberg und Büdinger Lang. Seit 1982 unterstützt das BZ Menschen mit Suchtproblemen und berät in Erziehungsfragen und bei Jugendproblemen. Die Beratung ist freiwillig, kostenlos und auf Wunsch anonym. Tel.: 06631 / 793900

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