Evangelisches Dekanat Vogelsberg

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          Leitfaden von Pfarrer Sven Kießling zu einem schwierigen Thema

          Was brauchen Angehörige nach einem Suizid?

          T. Schlitt

          Der Lauterbacher Pfarrer Sven Kießling hat für seine Studienarbeit über seelsorgliche Herausforderungen nach einem Suizid 22 Angehörige in 18 Fällen befragt. Herausgekommen ist eine Handreichung für Pfarrerinnen und Pfarrer. Und nicht nur für sie.

          Der Lauterbacher Pfarrer Sven Kießling ist ehrenamtlicher Notfallseelsorger. Als solcher ist er nicht nur engagiert in der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) für Betroffene, sondern er leitet seit über 15 Jahren auch ein Team zur Einsatznachsorge für Einsatzkräfte. Er ist Fachberater im Katastrophenschutzstab des Vogelsbergkreises und schult Feuerwehrleute zum Thema „Physische und psychische Belastung im Einsatz“. Auch an den Schulungen in der Notfallseelsorge ist er beteiligt. In all diesen Bereichen ist Suizid ein Thema. Eines, das die Menschen, egal ob Einsatzkräfte oder Angehörige, besonders berührt. Die Freiwilligkeit des selbstgewählten Todes, das Nichtschicksalhafte, die bloße Absicht des Toten – all das sind Komponenten, vor denen Menschen in der Regel noch hilf- und fassungsloser stehen als bei anderen tragischen Fällen, von denen die Einsatzkräfte in ihrer Laufbahn viele sehen.

          Doch nicht nur für sie und die Angehörigen ist das Thema Suizid ein besonderes, auch Pfarrerinnen und Pfarrer stellt der Umgang mit dieser Art von Tod und die damit verbundene Begegnung mit den Menschen im Umfeld des Toten vor große seelsorgliche Herausforderungen. Als Pfarrer und Einsatzkraft hat Sven Kießling den Blick auf zwei Seiten eines Todesfalls. Nun nutzte er eine dreimonatige Studienzeit, um nicht nur sein eigenes Wissen und Verständnis zu vertiefen, sondern auch um für Pfarrerinnen und Pfarrer eine Handreichung zu erarbeiten, mit der sie der eher seltenen Herausforderung eines Suizides in ihrer Gemeinde begegnen können. „Bei solchen Todesfällen ist keine Routine vorhanden, die Rahmenbedingungen und Emotionen sind komplexer als bei anderen Sterbefällen. Deshalb kann auch die Frage nach den Bedürfnissen der Betroffenen und einer guten Begleitung oft nicht sicher beantwortet werden“, skizziert der Pfarrer seinen Ausgangspunkt. Davon ausgehend nutzte er seine Studienzeit, um mit Menschen zu sprechen, die in ihrer Familie, im Freundes- oder Bekanntenkreis einen Suizid erlebt haben.

           

          Viele seiner Interviewpartner kamen zu ihm, nachdem er hier und da kommuniziert hatte, was er vorhatte: Zweiundzwanzig Menschen zu achtzehn Fällen hat er befragt und – zufällig und nicht repräsentativ – ein breites Spektrum sowohl was die Ereignisse als auch die Altersspanne der Toten betrifft abgedeckt: Vom 20- bis zum 90-Jährigen waren Menschen dabei, die sich das Leben nahmen, die vermisst oder schnell gefunden wurden, die mit oder Abschiedsbrief gingen, spektakulär oder leise, nachvollziehbar oder nicht.

          Drei essentielle Zeitabschnitte beleuchtete Kießling in seinen Fragen an die Angehörigen, die Eltern, Geschwister, Nichte, Cousine, Freunde, Enkel, Nachbar oder Betreuer waren: Als erstes ging es um den Zeitraum um den Tod bzw. das Auffinden des Verstorbenen. Hier interessierte sich der Seelsorger dafür, wie die Menschen davon erfahren haben, wer den Toten aufgefunden hat, wie die Nachricht überbracht wurde. Es ging aber auch um die Gefühlswelt der Angehörigen und darum, wir ihr Umfeld ihnen begegnete. Den zweiten relevanten Zeitraum machte Kießling rund um die Beerdigung fest: Was war hilfreich, was nicht? Was hätten die Angehörigen sich gewünscht und wie sollte sich die Kirche eigentlich in der Öffentlichkeit zum Thema Suizid verhalten? Der dritte, ausführlichere Zeitraum führte den Pfarrer und die Befragten von der Beerdigung bis in die Gegenwart: Wie haben sich die Gefühle zu den Ereignissen verändert? Welche Kontakte oder Begleitung gab es nach der Beerdigung? Kam der Pfarrer oder Pfarrerin noch einmal? Wie verhielt und verhält sich das soziale Umfeld? Was hat geholfen und was nicht?

          Aus den Antworten der Befragten hat Sven Kießling einen Leitfaden erstellt, der den Pfarrerinnen und Pfarrern in der Akutphase, also direkt nach dem Ereignis, Handlungsspielräume aufzeigt und dazu führen kann, dass sich die Angehörigen besser betreut fühlen und der Pfarrer in seiner Hilfe kompetenter auftreten kann. Auch für die Zeit danach hat Kießling Handlungsvorschläge aus den Antworten entwickelt. Wie er zu seinem Leitfaden kommt, das machen die Interviews deutlich, die in ihrer gesamten Länge anonymisiert in der Arbeit wiedergegeben werden. Hier – und auch in den Zwischentönen, dem Auftreten, der Interaktion mit ihm als Pfarrer und Interviewer – werden viele Facetten der Tragödien deutlich, die sich hinter einem Suizid verbergen. Überraschenderweise kommt bei den Angehörigen sehr selten die Frage nach einer persönlichen Mitschuld zum Tragen oder nach der Möglichkeit, die Tat verhindern zu können, so eine Feststellung.

          Ansonsten hat Kießling viele Gefühle erlebt: Fassungslosigkeit, da ein Suizid ohne erkennbaren Anlass und Abschiedsbrief stattfand, Wut darüber, alleingelassen worden zu sein. Familiäre Abgründe. Auch Freude darüber, dass jemand es geschafft hat, sich von seinem eigenen Leid doch zu erlösen. Depressionen, Drogen, enttäuschte Liebe – es gibt viele Gründe, die Menschen letztendlich in den Freitod führen. Umso schlimmer, wenn sie andere mitnehmen, wie in einem Fall geschehen, von dem Kießling berichtet. Was alle Hinterbliebenen eint, war die Aussage, dass sie sich sehr allein gefühlt haben, insbesondere, als nach der Beerdigung die Öffentlichkeit nachließ: Nicht nur der eigene Freundeskreis habe sich oft abgewendet, auch die Pfarrerinnen und Pfarrer hätten nicht mehr das Gespräch gesucht, was sich die Angehörigen in den meisten Fällen sehr gewünscht hätten. „Ich habe sogar jetzt noch bei den Interviews gemerkt, wie gut es den Menschen tut, über den Verlust zu sprechen“, sagt Kießling. „Ich habe Menschen erlebt, die nach außen stark sind und innerlich zerbrochen. Die massiv unter der Anforderung ihres Umfeldes, „dann bald mal wieder drüber weg zu sein“, leiden und sich in ihrer Trauer nicht genug verstanden fühlen. Ganz klar war auch eine Aussage einer Angehörigen: „Wir werden nie wieder die Alten sein.“

          Der Pfarrer wünscht sich nach den Interviews auch von den Einsatzkräften mehr Empathie: „Es wäre gut, die Notfallseelsorge direkt hinzuzuziehen, den Ort und die Art der Überbringung der Nachricht mit Bedacht zu wählen.“ Dennoch gilt seine Handreichung in erster Linie seinen Berufskollegen: „Für einen Gemeindepfarrer stellt sich die Frage, was die Menschen jetzt brauchen, was tut ihnen gut, was kann der Pfarrer tun?“ Letzteres sind mitunter ganz handfeste Sachen, etwa Vermittler zwischen Einsatzkräften und Angehörigen sein. Jemand, der die Lage im Griff behält, ein „Fels in der Brandung“, auch das. Bisher wird seine Arbeit von den Kolleginnen und Kollegen im Evangelischen Dekanat Vogelsberg mit großem Interesse aufgenommen. Über eine Veröffentlichung denkt Kießling gerade nach. „Ich denke, diese Arbeit kann als Leitfaden wirklich hilfreich sein“, sagt der Pfarrer, „denn auch ich lag trotz meiner besonderen Erfahrungen mit meiner Einschätzung, wie eine gute Begleitung von Betroffenen bei Suizid aussieht, teils daneben.“ Und so hat er nicht nur einen Ratgeber für seine Kolleginnen und Kollegen geschrieben, sondern auch für sich selbst.

          Auch wenn die Hilfe für Hinterbliebene von Suizidopfern hier im Vordergrund steht, gelten die Hilfsangebote der Seelsorgerinnen und Seelsorger auch jenen Menschen, die verzweifelt sind und deren Gedanken um das Thema Suizid kreisen. Sven Kießling: „Es gibt viele Angebote, die Menschen in für sie ausweglosen Situationen nutzen können, um vielleicht wieder ein Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Wir möchten diese Menschen einladen, mit uns zu sprechen oder andere Hilfsstellen wie beispielsweise die Telefonseelsorge (0800/1110111 oder 0800/1110222) zu nutzen.“

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